Freitag, 24. März 2023

Es gibt kein Wissen ohne Voraussetzung.

                       aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Der praktische Zweck nun ist, diese Zweifel zu lösen; den Menschen in Übereinstim-mung mit sich selbst zu bringen, dass er aus Überzeugung und aus Gründen seinem Bewusstsein glaubt, wie er es vorher aus Vernunftinstinkt tat. (Der ganze / Zweck der Bildung des Menschen ist, ihn durch Arbeit zu dem zu machen, was er vorher ohne Arbeit war.) Dieser Zweck ist in der Kantischen Philosophie völlig erreicht, sie ist be-wiesen, und jeder, der sie versteht, muss sie für wahr halten. 

Aber der Mensch ist auch nicht bestimmt, sich damit begnügen zu lassen. Er ist be-stimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis. Es ist nicht genug, dass unsere Zweifel gelöst und dass wir zur Ruhe verwiesen sind, wir wollen auch Wissenschaft. Es ist ein Bedürfnis der Menschen nach Wissenschaft, und die Wissenschaftslehre macht sich anheischig, dies Bedürfnis zu befriedigen. 

Also die Resultate der Wissenschaftslehre sind mit denen der Kantischen Philosophie dieselben, nur die Art, sie zu begründen, ist in jener eine ganz andere. Die Gesetze des menschlichen Denkens sind bei Kant nicht streng wissenschaftlich abgeleitet, dies soll aber in der Wissenschaftslehre geschehen. In dieser werden abgeleitet die Gesetze des endlichen Vernunftwesens überhaupt; im Kantischen System werden bloß aufgestellt die Gesetze des Menschen, weil es bloß auf Erfahrung beruht, diese werden in der Wissen-schaftslehre bewiesen. 

Ich beweise jemandem etwas heißt, ich bringe ihn dazu, dass er annehme, dass er irgend-einen Satz schon zu-gegeben habe, indem er die Wahrheit irgendeines anderen vorher zugegeben hatte. Jeder Beweis setzt also bei dem, dem er bewiesen werden soll, schon etwas Bewiesenes voraus, und zwei, die über nichts einig sind, können einander auch nichts beweisen. 

Da nun die Wissenschaftslehre beweisen will die Gesetze, nach denen das endliche Ver-nunftwesen bei Hervorbringung seiner Erkenntnis verfährt: so muss sie dies an irgend et-was anknüpfen, und da sie unser [Wissen?] begründen will, an etwas, das jedermann zugibt. Gibt es so etwas nicht, so ist systematische Philosophie unmöglich.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 6f.


Nota. - Das ist das Verfahren der Wissenschaftslehre: Statt freihändig Begriffe zu definie-ren und daraus ein System zu bauen, sucht sie in den wirkliche Vorstellungen der 'endli-chen' Vernunftwesen die ihnen zu Grunde liegenden anschaulichen Voraussetzungen auf, und erst, wenn sie an den Punkt gerät, hinter den es nicht hinausgeht, kehrt sie ihren Gang um und setzt, was sie zuvor analytisch auseinandergelegt hatte, synthetisch wieder zusammen; daran, ob auf diesem Weg die wirkliche Vorstellungswelt der 'endlichen Ver-nunftwesen' hinreichend rekonstruiert werden kann, entscheidet sich ihre Richtigkeit.

Nota II. - 'Der Mensch ist bestimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis': woher weiß er das? Nach seiner Lehre ist der Mensch, sofern er Vernunftwesen ist, nur bestimmt als das, wozu er sich selbst bestimmt. Wenn er sagt 'So ist es', kann es sich entweder um die Feststellung eines empirisch Vorgefundenen handeln, oder um ein Postulat: 'So soll es sein.' - Tatsächlich handelt es sich hier um beides; es ist die historisch vorgefundene Tat-sache des autonomen bürgerlichen Subjekts; und der Entschluss des theoretischen Philo-sophen, dies empirisch Gegebene als den Zielpunkt seiner (Re-) Konstruktion anzusehen. Die Wissenschaftslehre ist die Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters.

30. 5. 16


Nota III. - ... dass er aus Überzeugung und aus Gründen seinem Bewusstsein glaubt, wie er es vorher aus Vernunftinstinkt tat': Die Vernunft kam zuerst, Vernunftkritik kam da-nach.

Der gesunde Menschenverstand vertraut der Vernunft, weil sie ihm durch Dienste, die sie täglich leistet, ihre Zuverlässigkeit beglaubigt. Zur Kritik gibt es im geschäftigen Alltag keinen Anlass. Anders ergeht es den Gelehrten. Sie begnügen sich nicht mit der Einsicht, dass etwas ist, sondern wollen wissen, warum. 

Dem gesunden Menschenverstand liegt es klar und deutlich vor Augen, dass er alles, was er weiß, aus Erfahrung weiß. Der harte Kern der Erfahrung ist die Beobachtung, dass dieses nicht zufällig, sondern mit Notwendigkeit aus jenem folgt. Und just an diesem Kern muss der gesunde Menschenverstand, wenn er nur soviel Skepsis walten lässt wie bei seinen Geldgeschäften, einsehen, dass er gerade dies nicht "aus Erfahrung" weiß. Beob-achten kann er vorher und hinterher; aber wegen kann er weder sehen noch betasten, weder hören, schmecken oder riechen.

Das war der Punkt, an dem Kants Kritik ansetzte.

JE, 18. 10. 20



Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

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