Samstag, 19. November 2022

Freiheit: bedingt, aber nicht bestimmt.

                               zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Bemerkung: Das Handeln des freien Wesens außer mir, auf welches so geschlossen wird, verhält sich wie der angefangene Weg zu der Fortsetzung desselben. Es ist mir gegeben eine Reihe der Glieder, durch welche der Zweck bedingt ist; eine Reihe, die ich vollenden soll. Zuförderst ist sonach alles Handeln freier Wesen ein Hindurchgehen durch unend-lich viele Mittelglieder, die bloß durch die Einbildungskraft gefasst werden - wie bei der Bewegung durch unendlich viele Punkte. Es fordert mich jemand auf heißt: Ich soll an eine gegebene Reihe des Handelns etwas anschließen. Er fängt an und geht bis auf einen gewissen Punkt, von da an soll ich anfangen. 

Nun liegt hier ein unendliches Mannigfaltiges der Handlungsmöglichkeiten, welche bloß durch Einbildungskraft zusammengefasst werden. Denn das Handeln mehrerer Vernunft-wesen ist eine einzige durch Freiheit bestimmte Kette. Die ganze Vernunft ist nur ein ein-ziges Handeln. Ein Individuum fängt an, ein anderes greift ein und so fort, und so wird der ganze Vernunftzweck durch unendlich viele bearbeitet und ist das Resultat von der Einwir-kung aller. 

Es ist dies keine Kette physischer Notwendigkeit, weil von Vernunftwesen die Rede ist. Die Kette geht immer in Sprüngen, das Folgende ist immer durchs Vorher/gehende be-dingt; aber dadurch nicht bestimmt und wirklich gemacht (vide Sittenlehre). Die Freiheit besteht darin, dass aus allen Möglichen nur ein Teil an die Kette angeschlossen werde.
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J. G Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 232f.
 

Nota. - Die Wissenschaftslehre erzählt nicht nach, 'wie es wirklich ist', sondern stellt dar, was in der Vorstellung wirklich vorkommt und weshalb das notwendig ist. Hier steht also sinngemäß: Alles Reden von Vernunft hat einen intelligiblen Sinn nur, wenn man sie so auffasst. Wird der Weg fortgegangen, so wird es eine Kette sein. Aber sie wird aus Frei-heit fortgewirkt. Wenn wir uns also (in der Abstraktion) denken, dass sie einmal an ein Ende käme, so wäre es nicht durch physische Notwendigkeit als Folge seiner Ursache, sondern durch Freiheit als Zweck gesetzt: 'bedingt, aber nicht bestimmt'. Die Freiheit hätte an jedem Punkt auch andere Möglichkeiten wählen und andere Teile anfügen kön-nen. Der 'Endzweck' wäre ein anderer geworden.

Wenn Hans Vaihinger die Wissenschaftslehre nova methodo gekannt hätte, wären ihm die Augen übergegangen und er hätte auf seine dickleibige Philosophie des Als Ob achsel-zuckend verzichtet. Und wenn Fichte seinen Weg nova methodo 'zuende gegangen' wäre, hätte er sich nie auf die dogmatische Auffassung eines Realabsoluten und eines gegebe-nen Endzwecks der Vernunft einlassen können.

12. 10. 17


Nota II. - Ließe sich daraus folgern, dass alles, was auch immer in unserer Geschichte vorkam, zu seiner Zeit vernünftig, nämlich ein notwendiges Glied des problematisch pro-jizierten Vernunftzwecks gewesen ist? Vernünftig ist das Handeln nach selbstgesetzten Zwecken: aus Freiheit. Freiheit bedeutet nicht, dass kein Irrtum möglich ist; wie auch das? Wenn das Handeln die Zwecke, die gesetzt waren, nicht realisiert, sondern Folgen zeitigt, die nicht als Zwecke gesetzt waren und aus Freiheit nicht wählbar wären, so wird die Vernunft neu und anders wählen.
 
Es heißt hier nicht, wie bei Hegel, das Wahre sei das Wirkliche. Der Weg der Vernunft in der Geschichte ist keine aufsteigende Linie, wie könnte er? Das Kriterium ist noch nicht, dass die Zwecke aus Freiheit gesetzt waren; das ist erst die notwendige Bedingung. Sondern, ob sie durch vernünftiges Handeln in der sinnlichen Welt realisiert werden. Da geht es um praktisches Bestimmen. Das mag immer scheitern, sei's am Widerstand der sinnlichen Welt, sei es an falschen Begriffen. Ob oder ob nicht ist keine Sache theoretischer Vorhersehung, sondern des wirklichen Versuchs.

Es geht zuerst einmal um die Bedingung: aus Freiheit. Doch was aus der Freiheit gemacht wird, ist, worauf es am Ende ankommt. Und die Frage ist immer konkret.

11. 4. 2019
 
 
Nota III. - Hier zum xten Mal: Was bedeutet im transzendentalen Sinn 'notwendig'? - Ge-geben sind zwei Termini: Erstens die historisch vorgefundene Tatsache, 'dass es Vernunft gibt'; und zweitens die durch analytischen Regress aufgefundene Einsicht, dass am Anfang Freiheit 'gewesen sein muss'. Zwischen beiden Polen ist ein Bogen zu spannen. Da am An-fang Freiheit war, waren alle vorstellbaren und selbst nicht vorstellbare Akte möglich und mögen auch geschehen sein. Wir müssen aber nur die beachten, die wirklich auf den Weg einer fortschreitenden Bestimmung von Freiheit zur Vernunft gehören. Alles andere bleibt außer Acht. 
 
Wenn wir auf diesem Weg zur Rekonstruktion einer intelligiblen Welt bzw. einer Reihe ver-nünftiger Wesen gelangen, ist der Bogen zwischen beiden Termini gespannt und ist alles, was auf ihm geschehen ist, als notwendig erwiesen; vernunft notwendig. Mehr wird nicht behauptet; schon gar nicht, dass es anders gar nicht hätte kommen können.
15. 6. 21 

Nota IV. - Ein ebenso kluger Mann hat es später so ausgedrückt: Die Menschen machen ihre Geschichte nicht unter frei gewählten Voraussetzungen, aber sie machen sie selber (oder war es umgekehrt?).
JE





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

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