René Burri zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
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Die Wissenschaftslehre soll für alle mögliche Wissenschaften die Form
aufstellen. – Nach der gewöhnlichen Neigung, an der wohl auch etwas
Wahres seyn mag, thut die Logik das gleiche. Wie verhalten sich diese
beiden Wissenschaften, und wie verhalten sie sich insbesondere in
Absicht jenes Geschäfts, das beide sich anmaassen?
Sobald man sich erinnert, dass die Logik allen
möglichen Wissenschaften bloss und allein die Form, die
Wissenschaftslehre aber nicht die Form allein, sondern auch den Gehalt
ge-ben solle, so ist ein leichter Weg eröffnet, um in diese höchst
wichtige Untersuchung einzu-dringen. In der Wissenschaftslehre ist die
Form vom Gehalte, oder der Gehalt von der Form nie getrennt; in jedem
ihrer Sätze ist beides auf das innigste vereinigt. Soll in den Sätzen
der Logik die blosse Form der möglichen Wissenschaften, nicht aber der
Gehalt liegen, so sind sie nicht zugleich Sätze der Wissenschaftslehre,
sondern sie sind von ihnen verschieden; und folglich ist auch die ganze
Wissenschaft weder die Wissenschaftslehre selbst, [66]
noch etwa ein Theil von ihr; sie ist, so sonderbar dies auch bei der
gegenwärtigen Verfassung der Philosophie jemandem vorkommen möge,
überhaupt keine philosophische, sondern sie ist eine eigene,
abgesonderte Wissenschaft, wodurch jedoch ihrer Würde gar kein Abbruch
geschehen soll.
Ist sie dies, so muss sich eine Bestimmung der
Freiheit aufzeigen lassen, mit welcher das wissenschaftliche Verfahren
aus dem Gebiete der Wissenschaftslehre auf das der Logik übertrete, und
bei welcher sonach die Grenze zwischen beiden Wissenschaften liege. Eine
solche Bestimmung der Freiheit ist denn auch leichtlich nachzuweisen.
In der Wissen-schaftslehre nemlich sind Gehalt und Form nothwendig
vereinigt. Die Logik soll die blosse Form, vom Gehalte abgesondert,
aufstellen; diese Absonderung kann, da sie keine ur-sprüngliche ist, nur
durch Freiheit geschehen. Die freie Absonderung der blossen Form vom
Ge-halte wäre es sonach, durch welche eine Logik zu Stande käme. Man
nennt eine solche Ab-sonderung Abstraction; und demnach besteht das Wesen der Logik in der Abstraction von allem Gehalte der Wissenschaftslehre.
Auf diese Art wären die Sätze der Logik bloss
Form, welches unmöglich ist; denn es liegt im Begriffe des Satzes
überhaupt, dass er beides, Gehalt sowohl als Form, habe. (§ 1) Mithin
müsste das, was in der Wissenschaftslehre blosse Form ist, in der Logik
Gehalt seyn, und dieser Gehalt bekäme wieder die allgemeine Form der
Wissenschaftslehre, die aber hier be-stimmt als Form eines logischen
Satzes gedacht würde. Diese zweite Handlung der Freiheit, durch welche
die Form zu ihrem eigenen Gehalte wird, und in sich selbst zurückkehrt, heisst Reflexion.
Keine Abstraction ist ohne Reflexion; und keine Reflexion ohne
Abstrac-tion möglich. Beide Handlungen, von einander abgesondert gedacht,
und jede für sich betrachtet, sind Handlungen der Freiheit; wenn in
eben dieser Absonderung beide aufein-ander bezogen werden, so ist unter
Bedingung der einen, die zweite nothwendig; [67] für das synthetische Denken aber sind beide nur eine und ebendieselbe Handlung, angesehen von zwei Seiten.
Hieraus ergiebt sich das bestimmte Verhältniss der Logik zur Wissenschaftslehre. Die er-stere begründet
nicht die letztere, sondern die letztere begründet die erstere: die
Wissen-schaftslehre kann schlechterdings nicht aus der Logik bewiesen
werden, und man darf ihr keinen einzigen logischen Satz, auch den des
Widerspruchs nicht, als gültig vorausschicken; hingegen muss jeder
logische Satz, und die ganze Logik aus der Wissenschaftslehre bewie-sen
werden; – es muss gezeigt werden, dass die in der letzteren
aufgestellten Formen, wirkliche Formen eines gewissen Gehaltes in der
Wissenschaftslehre seyen. Also entlehnt die Logik ihre Gültigkeit von
der Wissenschaftslehre, nicht aber die Wissenschaftslehre die ihrige von
der Logik.
Ferner, die Wissenschaftslehre wird nicht durch die Logik, aber die Logik wird durch die Wissenschaftslehre bedingt und bestimmt.
Die Wissenschaftslehre bekommt nicht etwa von der Logik ihre Form,
sondern sie hat sie in sich selbst, und stellt sie erst für die mögliche
Abstraction durch Freiheit auf. Im Gegentheil aber bedingt die
Wissenschaftslehre die Gültigkeit und Anwendbarkeit logischer Sätze. Die
Formen, welche die letztere aufstellt, dürfen in dem gewöhnlichen
Geschäfte des Denkens und in den besonderen Wissenschaf-ten auf keinen
anderen Gehalt angewendet werden, als auf denjenigen, den sie schon in
der Wissenschaftslehre in sich fassen – nicht nothwendig auf den ganzen
Gehalt, den sie dort in sich fassen, denn dadurch würde keine besondere
Wissenschaft entstehen, sondern nur Theile der Wissenschaftslehre
wiederholt werden, aber doch nothwendig auf einen Theil desselben, auf
einen in und mit jenem Gehalt begriffenen Gehalt. Ausser jener Bedingung
ist die durch ein solches Verfahren zu Stande gebrachte besondere
Wissenschaft ein Luftge-bäude, so logisch richtig auch in derselben
gefolgert seyn möge.[68]
Endlich, die Wissenschaftslehre ist nothwendig – nicht eben als
deutlich gedachte, systema-tisch aufgestellte Wissenschaft, aber doch als
Naturanlage – die Logik aber ist ein künstli-ches Product des
menschlichen Geistes in seiner Freiheit. Ohne die erstere würde
über-haupt kein Wissen und keine Wissenschaft möglich seyn; ohne die
letztere würden alle Wissenschaften nur später haben zu Stande gebracht
werden können. Die erstere ist die ausschliessende Bedingung aller
Wissenschaft; die letztere ist eine höchst wohlthätige Er-findung, um den
Fortgang der Wissenschaften zu sichern und zu erleichtern. ___________________________________________________________________
J. G. Fichte, Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, §6
Nota. - 'Die Wissenschaftslehre begründet die Logik' -? Olalà!
- Logik ist ja wohl ein Prädikat des Denkens: Man denkt log isch oder nicht. Menschen
denken. Wenn also etwas dran ist am Anspruch der Wissenschaftlehre, das
Denken zu erklären, dann begründet sie eo ipso das Logische daran.
Doch verfährt sie nicht selber log isch? -
Ihre Darstellung verfährt diskursiv, das ist wahr. Anders können wir
nicht 'darstellen'. Aber sie stellt nicht das diskursive Verfahren dar,
in-dem sie etwa Begriffe durch logische Folgerungen zu Sätzen
verknüpfte. Sondern sie be-schreibt den Gang des Vorstellens in auseinander hervorgebrachten Bildern - schlecht und recht, mag man sagen, und darum ist auch niemand genötigt, ihre Beschreibung einzusehen. Sie
zu ignorieren ist ein Leichtes und steht jedermann frei. Er wird dann
eine ganze Menge Einsichten nicht haben können, doch auch das muss er ja
nicht. Er kann allerdings, und das kann man ihm empfehlen, versuchen,
den Gang dieser Bilder selber in sich hervorzubrin-gen, und wenn es ihm
gelingt, wird er finden, dass er manches versteht, was ihm vorher
rätselhaft war, besser gesagt: noch rätselhafter als nun. Und je öfter er es versucht, um so weniger rätselhaft wird es ihm vorkommen.
JE, 13. 10. 20