
Die Kantische Philosophie ist nur durch Induktion, nicht aber durch Deduktion bewiesen. Sie sagt: Wenn man diesen oder jene Gesetze annehme, wäre das Bewusstsein zu erklären; sie gilt daher nur als Hypothese.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 5f.
Nota I. - Kants Induktion führt ihn nur bis zu den Kategorien. Er hat sie im Material 'auf-gefunden' und stellt sie zusammen; nebeneinander. Aber schon, weshalb es genau diese zwölf sein müssen, wird nicht demonstriert und nicht deduziert. Schon gar nicht wird de-duziert, woher sie stammen. Es sind vier mal drei, das sieht gut aus, aber mehr Evidenz haben Kants Kategorien nicht für sich.
18. 6. 17
Nota II. - Aber weshalb hat er bei den Kategorien Halt gemacht?
Dass er sie auf induktivem Wege aufgefunden hatte, war genial genug. Natürlich kann er so nichts beweisen. Aber dass er nach seinem Verfahren auf mehr oder andere als diese zwölf hätte kommen können, ist ihm bislang auch nicht nachgewiesen worden. Soweit kann man die Sache auf sich beruhen lassen.
Aber um tiefer zu bohren und die Frage zu klären, wo die Kategorien - oder das Apriori, wie er es nennt - hergekommen sind, hätte er wie irgendein Dogmatiker freihändig zu spe-kulieren beginnen müssen. Die einfachste spekulative Antwortung - Gottes Ratschluss - lag aber längst vor, er hätte sie durch eine bessere Variante verdrängen müssen. Das hat er gar nicht erst versucht, und ob seine Aussage, er habe dem Glauben Platz schaffen wollen, ein wahres Bekenntnis oder eine Ausrede war, ist unter diesen Umständen gleichgültig. Es liefe auf dasselbe hinaus.
Das tiefer Bohren hätte auch nicht geschehen können durch Erweiterung - Vertiefung - des zu untersuchenden Materials; man wüsste ja nicht einmal, wo man anfangen soll. Es musste vielmehr das Verfahren vertieft, nämlich radikalisiert werden. Das hat Fichte unternommen, aber nicht, indem er analytisch Scheibchen für Scheibchen von den induktiv freigelegten Ka-tegorien abzog, um an ihre Gründe vorzudringen; sondern indem er diesen Arbeitsgang im Gedankenexperiment übersprang.
Wie war Kant verfahren? Er hatte vom gegebenen Material der Vernunft - den Begriffen* - nach und nach die besonderen Bestimmungen abgezogen. Zuerst scheiden sich Noumena und Phainomena. Noumena sind reine Denkbestimmungen; bei den Phainomena kommt als Differentia specifica die Erfahrung hinzu. Von der werden wieder, Schritt für Schritt, die konkreten Bestimmungen abgezogen. Bleibt übrig ein 'apriorischer' Fundus, den er in vier mal drei Kategorien und zwei Anschauungsformen aufteilt. Kategorien und Anschauungs-formen lassen sich nicht selber analytisch zerlegen. Sie müssen en bloc abgezogen werden von der stets gegenwärtigen, ausgesprochen-unausgesprochenen Prämisse des Ich denke, das alle unsere Sätze muss begleiten können.
Ziehen wir vom Denken all die Bestimmungn ab, die es von anderen Tätigkeiten unter-scheiden könnten, so bleibt übrig: reine Agilität ohne alle Bestimmung. Wollen wir von da aus den Weg zurück zum entwickelten Vernunftsystem beschreiten, von dem wir ja ausge-gangen sind, so muss als erster Schritt ein sich-selbst-Bestimmen der reinen Agilität vorge-stellt werden. Und siehe da: Die Agilität erweist sich ipso facto als nicht gar so rein, denn sie zeigt sich als bestimmen-könnend.
So muss verfahren, wer Kants induktives Verfahren radikalisiert.
*) Begriffe sind Vorstellungen, die so weit bestimmt sind, dass sie im Gedächtnis verzeich-net und durchs Symbol Anderen mitgeteilt werden können.
PS. Dass ich es nicht vergesse: Hier handelt es sich um den ersten, analytischen Gang der Wissenschaftslehre.
JE, 1. 6. 19